Mein wundervolles Spastik-Buch

Wie ich von Karin mit ’ner Behinderung zu Karin, der Behinderten, wurde. Und wie ich mich mit „mehr Herz“ als Verstand aus der Opferrolle befreite.

Karin Gottheil, AAVAA Verlag, ISBN 978-3845919607, 191 Seiten, EUR 11,95

Mit Unterstützung von Annette Piechutta

1. Der Inhalt

Karin ist ein aufgewecktes Kind, das seine körperlichen Schmerzen ignoriert, dazu den Spitzfuß. Sie kennt es nicht anders. Ihre Unbeschwertheit bekommt einen Dämpfer, als sie mit zehn Jahren an der Achillessehne operiert wird, um den Fuß zu „normalisieren“. Die Enttäuschung danach ist groß, weil alles noch schlimmer zu werden scheint. Ihr Leben ist fremdbestimmt, und nicht selten wird ihr körperliches Handicap mit geistiger Behinderung gleichgesetzt.
Karin, hochintelligent, fügt sich, macht jahrelang einen Job, den andere für sie ausgesucht haben, ihren Neigungen jedoch nicht gerecht wird. Dass ein Mann sie lieben könnte, hält sie für ausgeschlossen. Erfüllung findet sie ausschließlich im Behindertensport, in dem sie sich im Vorstand und als Übungsleiterin engagiert.
Ihre Seele rebelliert. Die Schmerzen werden schlimmer und die verordneten Medikamente helfen nicht. Karin hat eine ständige Wut im Bauch. Ihre innere Unzufriedenheit überdeckt ihre wahre Persönlichkeit. Eines Tages lernt sie Ulli kennen, eine Physiotherapeutin, die nicht einfach nur macht, sondern zum ersten Mal fragt, was Karin will. Mit dieser Frage ist die neue Patientin völlig überfordert. Ein erster Schritt zu mehr Selbstbestimmung?
Die Veränderung kommt mit achtundvierzig Jahren. Mithilfe von drei Spezialistinnen, Karin nennt sie „ihre Begleiterinnen für Körper, Geist und Seele“, begibt sich die Spastikerin auf den Weg zu einem völlig neuen Bewusstsein. Der Umbruch ist nicht leicht, oft anstrengend und es gehört Mut dazu, die Sicherheitsschublade zu verlassen. Kein Stöhnen, Lästern und unsägliches Uähh … mehr. Dabei kann das Leben so spannend sein, wenn der Betroffene die Opferrolle hinter sich lässt.

2. Die Autorin

Karin Gottheil, geboren 1964, ist von Geburt an Spastikerin. Sie arbeitete dreißig Jahre lang zunächst als Bürokauffrau, später als Projekt-Sachbearbeiterin bei einer Krankenkasse. Seit ihrem neunzehnten Lebensjahr engagiert sie sich im Behindertensport, setzt sich im Vorstand und als Übungsleiterin für die Belange von Menschen mit Handicap ein. Sie lebt in Rosendahl, Münsterland.
Webseite der Autorin: www.karin-gottheil.de

3. Warum dieses Buch?

Viele Menschen mit Handicap werden fremdbestimmt. Sie dürfen oft nicht einmal darüber entscheiden, zu welcher Uhrzeit sie zu Bett gehen wollen. Andere sehen sich selbst als Opfer. Warum ich?
Das Buch zeigt, wie wichtig es für ein zufriedenes Leben ist, aus der Opferrolle herauszukommen und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen – trotz oder gerade wegen einer Behinderung.

4. Das Ziel des Buches

Das Ziel des Buches ist, den Leser zu motivieren, Eigenverantwortung zu übernehmen. Er soll prüfen, wo er steht, und in einer ruhigen Minute den Verstand ausschalten und das Herz sprechen lassen. Was möchte ich? Was davon kann ich alleine umsetzen? Zu welchen Vorhaben brauche ich Hilfe?
Die Autorin beschreibt, wie sie mithilfe ihrer drei Begleiterinnen (Physiotherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Persönlichkeitstrainerin) zu einem völlig neuen Bewusstsein gelangt ist. Heute kann sie das Leben genießen, hat mehr Verständnis für andere und hält es für möglich, sich einmal „so richtig zu verlieben“.

5. Vorwort

Es war im Februar 2015. Ein Mitarbeiter der Familienbildungsstätte sprach mich an, sagte, dass sie ihren Erzählsalon wieder aufleben lassen, und fragte, ob ich mitmachen wolle. Ich wusste, dass der Erzählsalon eine Einrichtung war, damit Menschen ihre Geschichte vor Publikum erzählen können, ohne von den Zuhörern unterbrochen oder bewertet zu werden, und auch ohne Diskussion im Anschluss. Derjenige, der etwas erzählen möchte, kann erzählen, einfach so.
„Um was geht es denn?“, fragte ich und hatte bereits so ein Kribbeln im Bauch.
Der Mann lächelte: „Der Tag, an dem sich mein Leben veränderte!“
Wow, das war mein Thema. Lebte ich heute nicht völlig anders als noch vor wenigen Jahren? Dachte ich nicht anders, sah mein Umfeld mit anderen Augen? War ich nicht eine völlig andere geworden? Ich überlegte nicht lange und sagte zu.
Was so forsch klang, war es nicht. Nach meiner Zusage wurde mir erst bewusst, auf was ich mich da einlassen wollte, und mein Herz begann wild zu klopfen. Ich sollte vor wildfremden Menschen etwas von meinem Leben preisgeben. Wollte ich das wirklich? Konnte ich das? Und wenn ja, würde ich so vortragen können, dass es die Leute mitriss?
Ich weiß nicht mehr, wie ich die Zeit bis dahin durchstand. Aber natürlich bereitete ich mich vor, gedanklich zumindest. Hätte ich mir Notizen gemacht und einen Zettel in Händen gehalten, hätte mich das womöglich irritiert und aus dem Konzept gebracht.
Was ich danach erlebte, war wirklich toll. Zuhörer kamen auf mich zu. Sie fanden es mutig, wie ich mein Leben verändert hatte, lobten mich für meine Teilnahme und die Art und Weise meines Vortrags.
Meine Heilpraktikerin für Psychotherapie grinste, als wir uns danach zur nächsten Sitzung trafen. „Na, hast ja ganz schön Erfolg gehabt mit deiner Geschichte. Willst du nicht mal Nägel mit Köpfen machen?“
„Nägel mit Köpfen, wieso?“
„Ja, warum schreibst du das nicht auf? Schreib ein Buch darüber!“
Ich ignorierte erst mal ihren Vorschlag, doch sie nervte mich immer wieder, sagte: „Nun komm mal in die Pötte!“
Irgendwann fand ich keine Ausrede mehr und beschäftigte mich näher mit der Idee. Ich konnte zwar gut erzählen, sah mich aber nicht in der Lage, es so aufzuschreiben, dass es einen Leser fesselte. Mir fehlte das Handwerk von … keine Ahnung. Jedenfalls das Fundament für einen packenden, längeren Text. Also ging ich ins Internet, googelte und suchte mir Hilfe.
Ich fand jemanden. Und wenn Sie, lieber Leser, liebe Leserin, Lust haben zu erfahren, was wir gemeinsam niedergeschrieben haben, dann blättern Sie doch einfach diese und die nächsten Seiten um.

6. Textauszug erstes Kapitel

Pes equinus oder der Spitzfuß
Hätte man mich, als ich etwa vier Jahre alt war, nach einer DIN-Norm bewertet, wäre ich mit Sicherheit durchgerasselt. Ich entsprach nicht der Norm. Meine linke Seite war defekt. Das wurde mir zum ersten Mal schmerzlich bewusst, als ich versuchte, mir für den Kindergarten die Schuhe zu binden. Es ging einfach nicht, ich bekam die Schleife nicht hin. Ich konnte weder die linke Hand bewegen noch das Beinchen anheben. Dazu war mein Fuß ein sogenannter Spitzfuß. Er steckte zwar in einem normalen Schuh, doch ich musste mit ihm auf Spitzen laufen.
Meine große Schwester Susanna, elf Monate älter als ich, wunderte sich. „Mensch, du kannst das ja immer noch nicht?“
Mir standen die Tränen in den Augen, so verbissen hatte ich geübt. Ich wollte unbedingt in den Kindergarten, und wenn das die Bedingung war, dann würde ich es auch schaffen. Mutter unterbrach das Hantieren mit Teig und Schüssel. Es war Donnerstag, und da backte sie immer Kuchen: Rührkuchen, Obstkuchen, Streuselkuchen … je nachdem. „Pass mal auf, Karin, üb doch mal an der Bärbel.“
Bärbel war meine Puppe, sie trug einen Strampler und Schühchen, die geschnürt werden mussten. Also gut. Ich setzte sie vor mich auf den Küchenstuhl und versuchte erneut, Schleifen zu binden.
Susanna machte sich entnervt davon. „Ach, du kannst das ja doch nicht.“
Mutter, am Belegen des Kuchenteigs, zwinkerte mir zu. „Du schaffst das schon, es ist nur ein bisschen schwieriger für dich.“
Später, als ich mit unserer Großmutter im Garten die Hasen fütterte, hielt ich einen Moment inne. Das Schleifebinden ging mir nicht aus dem Sinn. „Du, Oma, Mama hat gesagt, dass das schwieriger für mich ist, eine Schleife zu binden. Warum ist das so?“ Ich hatte mich bisher zwar in so manchem schwergetan, doch nie gespürt, dass ich ein Handicap haben könnte. Wenn Vater oder Mutter mir beim Toben zurief, ich solle aufpassen, ignorierte ich das. Und wenn ich mit Nachbarskindern auf dem Eierkohlehaufen in der Nähe herumkletterte, war ich genauso schnell oben wie die anderen – und hinterher genauso schwarz.
Oma setzte den Korb mit Gras ab, strich mir übers Haar und sagte: „Mach dir nicht so viele Gedanken. Menschen haben ganz unterschiedliche Begabungen.“
Ich weiß nicht, ob ich ab diesem Zeitpunkt sensibler wurde, doch einige Tage später hatte ich starke Schmerzen. In der Nacht verschlimmerte sich das Ziehen. Es war wie ein Krampf, der sich von der Wade durch die gesamte linke Seite bis in den Arm hinauf zog. Ich erschrak fürchterlich, aber nur, weil es so wehtat.
Mutter, durch mein Klagen wach geworden, kam ans Bett und versuchte mich zu trösten. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, spürte nur ihre Hilflosigkeit, so als wüsste sie sich keinen Rat. Sie sah traurig aus, schrecklich traurig. Beim nächsten Mal, als es mir wieder einmal schlecht ging, unterdrückte ich die Schmerzen. Ich wollte nicht, dass Mutter traurig war, und wenn sie mich besorgt ansah und fragte, ob ich was hätte, sagte ich: „Nee.“

Ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, zwei gesunde Arme und Beine zu haben. Ich war Karin, die auf Spitzen lief. Im Kindergarten wurde ich aufgenommen, fühlte mich pudelwohl und konnte mittlerweile Schleifen wie am Fließband binden. Noch schöner allerdings war es zu Hause. Es kam mir vor wie Omas Paradies, von dem sie mir oft und gerne erzählte. Wir wohnten zwar beengt – drei von Vaters sieben Geschwistern lebten noch bei uns sowie Oma und Opa – doch das Häuschen lag idyllisch, besaß einen großen Garten mit Schaukel, Sandkasten, Blumen- und Gemüsebeeten, dazu unsere Kaninchen, Hühner und Schweine.
Wir waren drei Schwestern, ich in der Mitte als Sandwich-Kind. Susanna, die ältere, habe ich bereits vorgestellt. Mit ihr zankte ich mich oft, meist wegen Kleinigkeiten. Petra, die jüngste, fing zu der Zeit gerade zu laufen an. Meine Mutter, die nicht nur gut backen und kochen konnte, nähte für uns, und mit Haushalt und Garten hatte sie von morgens bis abends zu tun.
Meine Eltern packten mich nicht in schützende Tücher, dafür fehlten ihnen die Zeit und das Geld, und schon gar nicht steckten sie mich in die Schublade „Pass auf“, auch wenn das Wort an der Tagesordnung war. Wenn wir mit der Familie Ausflüge unternahmen, meistens sonntags, spielte meine Behinderung keine Rolle. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ganz selbstverständlich Touren planten wie Sommerrodelbahn, Tretboot fahren oder Schützenfest besuchen, in die ich problemlos integriert werden konnte. Und doch war die Aufmerksamkeit mir gegenüber eine andere. Oft hörte ich, wie sie sagten: „Da müssen wir bei der Karin drauf achtgeben.“ Oder sie riefen mir nach: „Pass auf, dass du nicht hinfällst … Klettere nicht auf den Baum … Lauf vorsichtig über den Steg.“
Pah, dachte ich, warum das denn? Warum darf ich nicht hinfallen, klettern, einfach so durch die Gegend laufen? Bald saß in meinem Hinterkopf fest: Ich muss vorsichtig sein. Vielleicht hätte ich mich sonst noch mehr getraut.
Vater war Tischler und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. Ich verbrachte gerne Zeit mit ihm im Keller, wenn er nach Feierabend klopfte, schraubte, hobelte. Er war geschickt, konnte gut mit Holz umgehen und baute die schönsten Möbel der Welt, wie ich fand. Samstags arbeitete er oft in der Nachbarschaft, half aus oder ging Freunden zur Hand. Am Sonntag gehörte er der Familie.
Wir hatten ein Ritual. Nach dem Kaffeetrinken am Nachmittag, wenn wir keinen Ausflug geplant hatten und zu Hause waren, spazierten wir durch den Ort, hin zum nahe gelegenen Wald und wieder zurück. In guter Sonntagskleidung. Was für uns Mädchen hieß, dass wir alle drei die gleichen Kleider trugen, gerne in Himmelblau, vorne mit einer dunkelblauen Knopfleiste, und ganz wichtig – mit weißem Kragen. Wenn wir am Landhandel mit dem davor liegenden Berg kohlrabenschwarzer Eierkohlen vorbeikamen, schaute mich Mutter mahnend an: „Da jetzt nicht rauf, Karin!“
Ich mochte diese Spaziergänge nicht, fand sie total doof. Viel lieber hätte ich mit Vater gehämmert, im Garten gespielt oder mit Großmutter Bilderbücher angeschaut. Susanna, die einmal neben mir herlief, beobachtete mich eine Weile. Als meine Schritte langsamer wurden und mein Gesicht in Trotzhaltung überging, zischte sie mir zu: „Mach jetzt bloß keinen Stress und hör auf, die Erschöpfte zu spielen. Du kannst, wenn du willst, also reiß dich zusammen.“
Ich sah sie wütend an. Susanna durchschaute mich immer: Wenn ich mit Nachdruck bemuttert werden wollte, keinen Bock auf etwas hatte oder glaubte, meinen Willen durchsetzen zu müssen. Unsere Eltern, und vor allem die Großeltern, konnte ich um den Finger wickeln, wenn ich es wollte. Obwohl … Großvater eher nicht. Er fand keinen Draht zu mir, konnte nichts mit mir anfangen. Das lag wahrscheinlich am Zweiten Weltkrieg, den er miterlebt hatte, den vielen Verletzten und Verwundeten in den Schützengräben und Lazaretten, die ihm nicht aus dem Kopf gingen. Und jetzt ein Enkelkind, das sich linksseitig nicht richtig bewegen konnte. Dass es sich so verhielt, begriff ich erst mit den Jahren. Als Kind sah ich nur, dass er sich viel lieber mit unserer jüngsten Schwester Petra beschäftigte. Beide gingen liebevoll miteinander um. Dafür hatte ich Oma, die mir jeden Wunsch von den Augen ablas, und später, als ich mit Zahlen umgehen konnte, schon mal einen Schein zusteckte, damit ich mir „was Schönes“ kaufte. Was Schönes hieß für mich Gummibärchen, Lakritze oder eine Tüte Drops, und den Rest steckte ich ins Sparschwein.
Bis zum Beginn der Schule war das Verhältnis zu meiner Großmutter sehr eng. Sie war eine gläubige Frau und frühmorgens, wenn ich nicht in den Kindergarten musste, begleitete ich sie zur Kirche. Die Kühle der Steinmauern, die hohen Fenster mit bunten Mosaiken, die prächtigen Kirchenbilder … das alles ließ mich staunen.
„Schau, das dort ist der Heilige Petrus. Er war ein einfacher Fischer. Jesus wählte ihn später als Ersten seiner zwölf Jünger aus. Der daneben ist Thomas. Er begleitete Jesus drei Jahre als Schüler und Freund. Und der ganz rechts, das ist Johannes der Täufer. Er gilt unter anderem als Schutzpatron für Kinderkrankheiten.“
Was Oma alles wusste. Dieser Johannes gefiel mir. Wenn ich das nächste Mal Schnupfen hätte oder mich einfach nur schlapp fühlte, würde ich zu ihm beten, vielleicht dauerten die Beschwerden dann nicht so lang.
Nach der Messe nahm mich Großmutter an die Hand und wir gingen zu Fuß Richtung Heimat, fast eineinhalb Kilometer. Ich lief ohne Murren, spürte meine Spastik nicht. Das lag möglicherweise daran, dass sie mich völlig normal behandelte. Für sie war ich ein ganz normales Kind.
Unterwegs schauten wir beim Bäcker vorbei und kauften frische Brötchen. Zu Hause hatte Mutter den Frühstückstisch für uns gedeckt. Sie war mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt, und als sie uns kommen hörte, legte sie kurz Messer und Gemüse zur Seite, um Kaffee aufzubrühen und für mich ein Glas Milch aus der Speisekammer zu holen.
Großmutter nahm den Hut ab, band sich eine Schürze um. Wir wuschen uns die Hände, und während ich mich an meinen Platz setzte, stellte sie sich an Mutters Seite und erklärte ihr, welches Stück Fleisch sie gerne in dem Gemüseeintopf hätte.
Ich konnte es noch nicht in Worte fassen, doch Mutters Gesichtsausdruck veränderte sich jedes Mal, wenn sie von Großmutter Anweisungen erhielt. Sie war noch immer die Herrin im Haus. Und wenn sich Mutter bei unserem Vater beklagte, weil sie kaum etwas alleine entscheiden durfte, schaute er sie mit liebevollen, doch befremdlichen Augen an. Für Konflikte zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter hatte er kein … Verständnis ist nicht das richtige Wort, vielleicht sollte ich „Gefühl“ sagen. Und wenn meine Mutter den Tränen nah war, nahm er sie in die Arme, drückte sie fest und sagte: „Ach, ist doch alles halb so schlimm.“
Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, dass ich als spastisches kleines Mädchen ohne Vorbehalte in den Kindergarten gehen durfte. Das jedenfalls hatte meine Mutter für mich durchgesetzt. In der Schule sollte es genauso laufen. Einfach eingeschult werden, in die erste Klasse gehen, fleißig lernen und fertig.
Ich erinnere mich, wie wir einer strengen Lehrerin gegenübersaßen, einer Frau um die vierzig, mit verbitterten Gesichtszügen, zu denen mir nur „böse“ einfiel. In meiner Welt gab es noch keinen differenzierten Blick, doch ich spürte, sie meinte es nicht besonders gut mit mir …

7. Presseartikel

BRSNW Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Nordrhein-Westfalen e. V., Januar 2017
Karin Gottheil ist von Geburt Spastikerin. Um mit sich und ihrer Behinderung ins Reine zu kommen, hat die 52-Jährige ein Buch geschrieben

„Jetzt mit 52 Jahren kann ich es endlich akzeptieren, dass ich eine Behinderung habe“, sagt Karin Gottheil. Seit ihrer Geburt leidet die Coesfelderin unter einer linksseitigen Spastik. „Meine Behinderung war überhaupt kein Thema, bis ich sechs Jahre alt und eingeschult wurde“, erzählt sie. Aufgrund ihrer körperlichen Einschränkung schlossen die Lehrer auch auf eine geistige Behinderung und behandelten sie entsprechend. „Sie haben aus Karin mit ‘ner Behinderung Karin, die Behinderte gemacht“, erzählt sie rückblickend. Das nagt an dem jungen Mädchen. „Andere wollten mich zu etwas machen, was ich gar nicht war. Sie behandelten mich nicht so, wie ich es gebraucht hätte. Nach DIN-Norm wäre ich durchgefallen.“
Später findet Karin Gottheil Erfüllung zunächst im Behindertensport, engagiert sich im Verein und später auch im Kompetenz-Team der KiJu im BRSNW. Sie arbeitet als Bürokauffrau bei einer Krankenkassen. „Aber vor vier Jahren ging es mir richtig schlecht, die Spastiken begannen auch rechts, es bestand der Verdacht, dass ich Multiple Sklerose haben könnte“, sagt sie. Die Ursache für diese Symptome: Sie war ihr bisheriges Leben psychisch nicht mit ihrer Behinderung klargekommen. Gemeinsam mit ihrer Physiotherapeutin, einer Heilpraktikerin und einer Persönlichkeitstrainerin entschließt sie sich, ein Buch über ihr Leben zu schreiben. „Ich hatte Panik und musste etwas tun“, erzählt Gottheil.
Karin Gottheil setzt sich mit der Autorin und Ghostwriterin Annette Piechutta zusammen und erzählt ihr ihre Geschichte. „Ich habe ihr in sechs Stunden mein ganzes Leben erzählt. Meine Kindheit, Ausbildung, der Sport. So wie ich geworden bin, wie ich heute bin“, sagt sie. Das Ergebnis ist „Mein wundervolles Spastik-Buch“. Karin Gottheils Erkenntnis: „Wer als Behinderter auf andere zugeht, für den öffnen sich Türen.“
Die Autorin führt auch Lesungen ihres Buches durch.