Ein Vierteljahrhundert Liederweib.

Das Leben einer Gauklerin

Dorothea Walther mit Annette Piechutta, Dokumentation mit Bildern und Musik-CD, Stämpfli Verlag, Bern, ISBN 978-3-7272-1206-2, 160 Seiten, EUR 36,50

Mit einem Vorwort von Dr. Evelyn Flögel,
Leiterin Elztal-Museum, Waldkirch

1. Die Künstlerin

Dorothea Walther, 1946 in Luzern geboren, ist Liederweib aus Berufung und als Chansonnette, Diseuse und Erzählerin seit Anfang der 80er Jahre im deutschsprachigen Raum unterwegs. Stets im Gepäck eine reiche Programmauswahl und mehrere mechanische Musikinstrumente, Musikdosen und Percussions, mit denen sie ihre Geschichten, Texte und Lieder begleitet. Sie lebt mit ihrer Familie in Bern.
www.liederweib.ch

2. Das Buch

Die Publikation zeigt einerseits das ungewöhnliche Leben einer Künstlerin, die ihre Karriere sehr spät begann, und macht damit Mut, etwas zu wagen und seiner inneren Stimme zu folgen. Andererseits soll sie das Liedgut und die volkskundlichen Fragmente dieses Kulturzweiges weitergeben und erhalten. Doch es geht auch um den Menschen hinter der Künstlerin. Dorothea Walther ist begeisterte Mutter, sieht in jeder Krise eine Chance und hatte dreizehn Berufe, bis sie in reifen Jahren zu ihrer Berufung als Liederweib fand. Sie war oft krank, sie war ganz unten, sie war alleinerziehend und sie kennt finanzielle Not. Davon erzählt das Buch. Aber vor allem von der Leidenschaft zur Drehorgel, mit der vor mehr als 25 Jahren alles begann. Dabei kommen Menschen zu Wort, die Dorothea Walther in all den Jahren begegnet sind, altes Liedgut wird neu interpretiert, Geschichten und Anekdoten lassen schmunzeln und zahlreiche Bilder dokumentieren ein Stück Zeitgeschichte.
Dorothea Walther ist das letzte Liederweib Europas und hat diese Kunstform ins 21. Jahrhundert gebracht und somit gerettet.

3. Vorwort von Dr. Evelyn Flögel, Leiterin Elztal-Museum, Waldkirch

Das Liederweib Dorothea Walther hat in einem Vierteljahrhundert Bühnenpräsenz das Dunkle, das Schräge und auch das Gemütvolle in unnachahmlicher Art ins Licht gerückt. Sie weiß ihr Publikum zu betören und zu verstören und schließlich in dem befreienden Jubel „Amor, Amor“ wieder zu einen. Ihre eigenwillige Performance wird untermalt von den vielfältigen Klangfarben mechanischer Musikinstrumente wie einer Drehorgel, einer Ariston Zungenorgel oder den rauschenden Tönen des Piano Melodicos aus der Zeit um 1900. Unkonventionelle Percussionsinstrumente unterstreichen ihren zuweilen rappenden Vortrag.
Dorothea ist mit ihrer Kunstform eine Grenzgängerin, die auf dem Bänkel der Straße wie auf der Kleinkunstbühne zu Hause ist und die jahrhundertealte Traditionen des Bänkelsangs für ihre oftmals zeitkritischen Themen ebenso virtuos zu nutzen weiß, wie das Pariser Chanson oder den New Yorker Rap. Sie steht am Ende einer langen Ahnenreihe von Liederweibern, die zunächst Partnerin der Bänkelsänger, der Ständlisänger, der italienischen Cantambianchi und der französischen Montaubancs waren.
Diese fahrenden Gesellen berichteten seit dem 16. Jahrhundert in den Straßen der Städte, auf Jahrmärkten und Messen über sensationelle Ereignisse in Wort und Bild und suchten mit Gesangseinlagen das Publikum zum Kauf ihrer Druckerzeugnisse zu animieren. In den angebotenen Oktavheftchen konnte das Publikum die Sensationen in Prosa und in Liedform mit nach Hause nehmen. Die Bank, das Podest, hob den Schausteller und Händler über die Menge hinaus. Während der Mann auf dem „Bänkel“ mit seinen gemalten Schildern werbewirksam Wunden und Bluttaten, Moritaten und Kriege theatralisch kolportierte, lockte das Liederweib laut singend potenzielle Käufer für die Liedzettel und Heftchen an. Am Ende des Vortrags bewegte es mit einem Absingvers die Zuhörer zu einer milden Gabe. Wurden zunächst verschiedene begleitende Instrumente genutzt, so wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts die Drehorgel zum bevorzugten Instrument der Bänkelsänger. Im ausgehenden 18. Jahrhundert entdeckten Literaten den Bänkelsang für sich und suchten ihn zu beeinflussen. Achim von Arnim und Clemens von Brentano planten 1806 eine Bänkelsängerschule mit politischer Zielsetzung. Dem in erster Linie unterhaltenden Bänkelsang wird in der Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche im 19. Jahrhundert eine politische Rolle zugedacht. Napoleon, die Befreiungskriege und die 48er Revolution wurden im Bänkelsang thematisiert. Unter dem Deckmäntelchen einer rührseligen, allbekannten Drehorgelmelodie konnten politische Texte an der Zensur vorbei öffentlich präsentiert werden.
Das 19. Jahrhundert war die Blütezeit des historischen Bänkelsangs. Doch mit dem Ende des Jahrhunderts begann sich sein Niedergang abzuzeichnen. Der professionelle Bänkel- und Moritatensänger, der noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine vertraute Gestalt auf dem Jahrmarkt war, reproduzierte nur noch traditionelles Liedgut. Der letzte aktuelle Mordfall wurde 1929 als Moritat gesungen (Mordfall Tetzner, 27.11.1929). Der Berufsbänkelsänger Dominik Rolsch beendete 1950 seine Laufbahn als letzter seiner Zunft.
Während um 1900 die bewegten Bilder des frühen Films die Bänkelsängerkunst mit ihren bunten Bildtafeln verdrängten, entdeckten moderne Autoren die Form des Bänkelsangs für ihren literarischen Protest. Frank Wedekind schuf 1901 als Mitglied des literarischen Kabaretts „Die elf Scharfrichter“ mit neuen Bänkel- und Moritatenlieder wichtige Impulse für die deutsche Bühne (…) Gekonnt wurden die Mittel des Bänkelsangs im Kabarett integriert und für ein intellektuelles Publikum mimisch-theatralisch modifiziert. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt die Moritat von Mackie Messer aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht dar.
Mit den Protestliedern der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts und den Waldeck-Festivals geraten der Bänkelsang und die Lieder der 1848er Revolution erneut in den Blickpunkt. Die Drehorgel, als „Lumpeninstrument“ abqualifiziert, kommt mit der Nostalgiewelle in gutbürgerlichen Kreisen zu neuen Ehren. Das Vortragen von Moritatenliedern wird zum gesellschaftsfähigen Hobby. In dieser Zeit formieren sich die Berner Bänkelsänger mit Dorothea Walther. Sie setzen sich zum Ziel, den Bänkelsang in all seinen Facetten von traditionell bis frech und aktuell zu zeigen. Mit der Moritat des Tages persiflieren sie die Bild-Zeitung und ihren Schlagzeilenjournalismus. Nach 15 Jahren löst sich die Gruppe auf. Dorothea nutzt die Erfahrungen aus dieser Zeit und beginnt, ausgehend von dem historischen Berufsbild des Liederweibes, eine neue, sehr persönliche Kunstfigur zu entwickeln und sich ein themenorientiertes Bühnenprogramm auf den Leib zu schneidern. Wie die Wiener Liederweiber des 18. und 19. Jahrhunderts, arbeitet sie selbstständig und beschäftigt Dichter, Drucker und Maler zur Umsetzung ihrer Geschichten. Musikzeichner schaffen nach ihren Angaben Kartonnoten für ihre verschiedenartigen Musikautomaten. Dorotheas Performance ist reich an erzählenden und beschreibenden Momenten. Ihre originellen, pointierten Chansons und Couplets unterscheiden sich in der gezielten Wahl der Melodie, wie auch in der sprachlichen Gestaltung des Themas von der Bänkelliedtradition.
In 25 Jahren gelang es Dorothea, ein breites Spektrum an Themen von kraftvoller Frauenpower bis zu besinnlicher Engellyrik in ihren Bühnenprogrammen Gestalt zu geben. Die Kunstfigur des Liederweibes ist zu einem unverwechselbaren Markenzeichen geworden.

4. Porträt der Künstlerin

Der Bund vom 2. Mai 2011. Redakteurin: Anita Bachmann
Das letzte hauptberufliche Liederweib Europas

Dorothea Walther. Sie rettet ein mittelalterliches Kulturgut ins 21. Jahrhundert und macht mit der nostalgischen Drehorgel Kunst

Bern – Musikdosen, montiert auf einer Orgelpfeife, ersetzten die Klingel an der Haustüre. Dorothea Walther liebt das mechanische Instrument, besonders die Drehorgel. Eines ihrer Bühnenprogramme und das Buch über ihr künstlerisches Schaffen, „Ein Vierteljahrhundert Liederweib – das Leben einer Gauklerin“, bezeichnet sie als Liebeserklärung an das Instrument. Angefangen hatte die Geschichte mit ihr und der Drehorgel im Trödlerladen, den sie im Rossfeldquartier betrieb. Sie hatte im kleinen Geschäft eine Drehorgel zum Vermieten. Doch bald drehte sie selber an der Kurbel – und begann dazu zu singen.
Die alleinerziehende Mutter von drei Buben sorgte selber für ihre Kinder und arbeitete daneben. Im Trödlerladen, im Atelier für Puppenspiel, im Käseladen oder im Teestübli. „Teilzeitarbeit war damals erst in alternativen Kreisen möglich“, sagt die bald 65-Jährige. Daneben trat sie 15 Jahre lang mit den Berner Bänkelsängern auf, mit dabei auch ihr zweiter Ehemann. Schließlich war sie zwei Jahre arbeitslos. Es war die Gelegenheit, darüber nachzudenken, was sie eigentlich wollte. Sie beschloss, alleine aufzutreten und trennte sich von den Bänkelsängern.
Liederweib nannte sie sich, anfänglich noch in Anführungszeichen. Hinter dem Namen stehe eine historische Erklärung. Die Bänkelsänger hatten oft ein Liederweib dabei, sie verkauften die Flugblätter mit den Texten und sangen die Melodie dazu. „Eine Sängerin impliziert etwas anderes“, sagt sie. Im Wort Weib schwinge auch Bewunderung mit. „Die cheibe Wiiber“, habe es etwa geheißen, als die Frauen vor zwanzig Jahren streikten. Aber einfach hatte es das Liederweib nicht, als sie plötzlich alleine auf der Straße ihre Musik und ihren Gesang zum Besten gab. „Man ist nackt“, sagt sie. Auf der Straße seien die Drehorgelspieler zudem nicht erwünscht, Straßenmusikanten hätten das Image des fahrenden Volkes. „Ich habe am Anfang sehr gelitten“, sagt Walther.
Ihre beste Zeit hatte sie während der Frauenbewegung. „Ich bin Feministin“, sagt sie. Sie war politisch, rebellierte und sang „Weiber an die Macht. Denn Weiber sind eine Wucht.“ Oft geht es in ihren Liedern auch um Verbrecher, Huren – und die Liebe. Während sie mit den Berner Bänkelsängern vor allem die traditionellen Liedertexte sang, an denen nur einzelne Wörter verändert wurden, ließ sie für sich neue Texte schreiben. „Die Drehorgelszene ist nostalgisch, die Möglichkeiten erschöpfen sich in Auftritten in Altersheimen.“ Sie aber schaffte es auf die Kleinkunstbühne, indem sie das Liedgut in die Gegenwart holte und sich aktuellen Themen annahm. Aber auch in der Kleinkunstszene musste sie sich immer wieder behaupten. In all den Jahren habe sie den Zugang zur Schweizerischen Künstler- und Theatervereinigung nicht geschafft. Auch wurde sie einmal ausgeladen, sich an der Theaterbörse in Thun zu präsentieren.
„Sie ist nicht sehr schön“: So beginnt ein Gedicht von Erich Kästner. Es sei, als habe Kästner das Gedicht für sie geschrieben, sagt Walther. Mit diesem Gedicht stelle sie sich oft auch bei Auftritten dem Publikum vor. Sie entspreche keinem Schönheitsideal, sie habe aber eine schöne Ausstrahlung. Und sie achtet auf ihr Äußeres: Die Haare sind rot gefärbt, das Gesicht sorgfältig geschminkt, die Kleider geschickt kombiniert. Sie brauche zwei Stunden, um sich für einen Auftritt vorzubereiten. „Ich wechsle auch drei Mal die Kleider, wenn ich mich nicht wohlfühle“, sagt sie. Es sei Teil ihrer künstlerischen Entwicklung, aber nicht nur. Wenn sie in Bern auf den Markt gehe, trage sie auch gerne einfach so einen lustigen Hut und schminke sich vorher.

Seit einem halben Jahr ist sie pensioniert. An ihrem Rhythmus habe das nichts geändert. Als freischaffende Künstlerin müsse sie sehr diszipliniert sein. Sie macht sich selber Jahresarbeitspläne, setzt sich vierteljährlich Ziele. Ihre Auftritte haben aus gesundheitlichen Gründen massiv abgenommen. Walther leidet an den Spätfolgen einer Kinderlähmung. Aber sie hat Ziele und Träume, an denen sie mit viel Ausdauer arbeitet: Sie möchte ihre Kunstform weitergeben – denn schließlich ist sie das letzte hauptberufliche Liederweib Europas.

5. Presseartikel

Der FOLKER vom 11. November 2011, Redakteur: Rainer Katlewski
Ein ungewöhnlich liebevoll gestaltetes Werk

In Bern, der Stadt Mani Matters, wirkt seit über einem Vierteljahrhundert Dorothea Walther, die sich dem Singen zum Leierkasten verschrieben hat. Diesen, heute wenig zu sehenden Instrumenten, begegnete sie damals in ihrem Trödelladen und verguckte sich gleich in das seltene Stück. Der Herr, der die Drehorgel zum Verleih ins Geschäft gebracht hatte, war Bänkelsänger, und so bekam das Leben der Berner Trödlerin eine völlig neue Richtung. Viele Jahre und einige Programme und Alben später hat sie zusammen mit der Autorin Annette Piechutta ein Buch herausgebracht, das Informationen, Anekdoten, Liedertexte, Bilder und Stellungnahmen von Weggefährten mit einer beigefügten Sampler-CD vereint. Es ist ein ungewöhnlich liebevoll gestaltetes Werk geworden, dem man ansieht, wie viel Herzblut Frau Walther bei ihrer Arbeit vergießt und das die Freunde ihrer Sangeslust und Engelssammelei erfreuen wird. Sie singt nämlich nicht nur gerne – „Liederweib“ nennt sie sich selbst -, sie sammelt auch seit einer Krisensituation Engelsfiguren jeder Art und stellt sie aus. Der Leser blickt mit dem Buch wie durch ein Kaleidoskop auf ihr Leben und ihre Arbeit, es ergibt ein Bild, aber mit Unschärfen. Die beigelegte CD enthält Aufnahmen ihrer verschiedenen Programme. Sie bringt unter anderem Piaf, Dietrich, Kästner, Brecht, Heine, eigenes oder speziell für sie Erdachtes zu Gehör, ja, selbst Elvis kommt auf dem Piano Melodico zu Ehren. Es versteht sich, dass diese Versionen sich erheblich anders anhören als die Originale.

Fuldaer Zeitung vom 30. Dezember 2010
Ein Weib mit vielen Liedern im Gepäck. Das Leben einer echten Gauklerin

Petersberg (cm) – Dorothea Walther ist das letzte hauptberufliche Liederweib Europas. Sie hat diese Kunstform ins 21. Jahrhundert gebracht und somit gerettet. Die Petersberger Ghostwriterin Annette Piechutta hat als Co-Autorin eine Publikation über ihr Leben verfasst.
Eigenwillige und ungewöhnliche Menschen müsse sie nicht suchen, sie fänden zu ihr, sagt Annette Piechutta. Als Ghostwriterin wolle sie Schicksalen eine Stimme geben und Lebensgeschichten ins Rampenlicht verhelfen. Bestes Beispiel dafür ihr letztes Projekt: „Ein Vierteljahrhundert Liederweib. Das Leben einer Gauklerin“.
Die Gauklerin ist Dorothea Walther und steht in einer langen Ahnenreihe von Liederweibern. Sie waren einst Partnerinnen der Bänkelsänger, die auf einem „Bänkel“ stehend mit gemalten Schildern werbewirksam über sensationelle Ereignisse, Kriege und Greueltaten berichteten. Laut singend lockten die Liederweiber am Ende eines Vortrages potenzielle Käufer für die Liedzettel an und baten mit einem Absingvers um eine milde Gabe.
Dorothea Walther, das letzte Liederweib Europas, ist seit über 25 Jahren sowohl auf dem Bänkel der Straße als auch auf der Kleinkunstbühne zu Hause. Das Buch zeigt ihr ungewöhnliches Leben und gewährt einen Blick auf den Menschen Dorothea Walther. Altes Liedgut wird neu interpretiert, Geschichten und Anekdoten lassen schmunzeln und zahlreiche Bilder dokumentieren ein Stück Zeitgeschichte.